Predigt: Gemeinde ist andauernde Vergebung

Predigt am 19. Sonntag nach Trinitiatis - 18.10.2020, Sennfeld und Schwebheim

Text: Eph 4, 22-32

Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. 23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn 24 und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. 26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, 27 und gebt nicht Raum dem Teufel. 28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. 29 Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören. 30 Und betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. 31 Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. 32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Liebe Gemeinde!

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Vielleicht werde ich alt. Irgendwie ertappe ich mich immer öfter bei dem Gedanken: „Früher war alles besser“. 

Ich meine damit gar nicht unbedingt die technischen Fortschritte. Da haben wir wirklich vieles erreicht, was unser Leben besser macht. Ich meine vor allem die Art, wie wir miteinander umgehen. Und die ist rauer geworden, gar keine Frage. Sehr viel rauer.

Schon allein die Frage, welche Maßnahmen gegen Corona helfen und welche nicht, entzweit unsere Gesellschaft. Freundschaften gehen daran zu Bruch, weil die einen der Meinung sind, das sei alles eh nur erfunden und ein Angriff auf die persönliche Freiheit, während die anderen versuchen, möglichst verantwortungsvoll und vorsichtig damit umzugehen. Haben Sie schon mal eine ruhige Diskussion darüber erlebt? Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, wo es ohne Streit abging. Ansonsten wird geschimpft, gelästert, beleidigt und provoziert.

Oder die Diskussion um den Klimawandel. Fridays for future, Greta Thunberg – Reizworte, mit denen man jede Diskussion zum Kochen bringen kann. Steigerwaldbahn, Flüchtlinge. Rettungsschiffe. Trump, E-Autos. Nehmen Sie, was immer Sie wollen. Die Diskussion entgleitet sofort, gegenseitige Beschimpfungen sind die Regel geworden.

Sicher kennen Sie auch Beispiele hier vor Ort. Schwierige Fragen, die für Streit und Verletzungen sorgen. So was gibt es – in unterschiedlicher Ausprägung – ja leider überall.

Sicher, oder wahrscheinlich, kennen Sie solche Konflikte auch aus der eigenen Familie oder vielleicht aus dem Betrieb oder aus einem Verein, in dem Sie sich engagieren. Konflikte gehören zum Leben. Doch die Frage ist: Wie gehen wir damit um?

Zu den großen Konflikten, die ich genannt habe, habe ich durchaus eine klare Meinung, aber die ist heute nicht so wichtig. Die wichtige Frage ist: Wie gehen wir damit um, dass wir verschiedene Positionen einnehmen in Fragen, die uns wirklich umtreiben? Positionen, die nicht miteinander vereinbar sind, auch nicht in den Gemeinden?

Ich merke an mir selbst: Ich bin zunehmend genervt. Ich mag schon gar nicht mehr diskutieren, weil es ja eh nichts bringt. Niemand rückt von seiner festen Meinung ab. Manche Freunde verabschieden sich deshalb ganz von Facebook, Twitter und den sogenannten sozialen Medien, denn sie ertragen diese ständigen Gehässigkeiten nicht mehr. Andere lassen die Diskussionen einfach ins Leere laufen, antworten nicht mal mehr. 

Die Fronten sind von vornherein verhärtet, und manchmal lasse auch ich mich zu Äußerungen hinreißen, die für mein Gegenüber verletzend sind. Dabei will ich das doch auf jeden Fall vermeiden. Aber die Stimmung heizt sich immer weiter auf, egal bei welchem Thema. Und schließlich bezeichnen wir uns gegenseitig als Lügner, als Idiot oder noch viel schlimmere Dinge.

„Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit“, heißt es in unserem heutigen Predigttext. Nur: Was ist Wahrheit? Leider ist das oft nicht so eindeutig zu bestimmen. Nehmen wir mal ein eigentlich ganz sachliches Beispiel, das erst mal mit Glaubensfragen und mit Kirche gar nichts zu tun hat und gerade deshalb das Problem ganz gut aufzeigt. Sie können das ja auf jede andere Fragestellung übertragen. Nehmen wir die Diskussion um die Steigerwaldbahn. Ich weiß, auch ein aufgeheiztes Thema. Ich versuche, das jetzt ganz ohne Wertung zu beschreiben und hoffe, dass es mir gelingt. Die einen sagen: „Die Reaktivierung wird sich niemals lohnen, so viele fahren da auf keinen Fall mit der Bahn.“ Die anderen sagen: „Es gibt schon ein Gutachten, das einen ausreichenden Bedarf festgestellt hat“. 
Was ist Wahrheit? Was ist Lüge, um es mit den Worten des Predigttextes zu sagen? Zwei Lager stehen sich gegenüber, die das jeweils unterschiedlich beurteilen.

Ich bin mir ziemlich sicher: Keine der beiden Seiten lügt bewusst. Es ist einfach nur die persönliche Überzeugung, im einen wie im anderen Fall. Wie kommen wir gemeinsam zu einer Lösung, gerade auch, wenn es offensichtlich keinen Kompromiss geben kann, kein „wir treffen uns irgendwo in der Mitte“? Wir können die Bahn ja schlecht nur auf einer Schiene fahren lassen.

Immer weiter steigern sich die Äußerungen hoch. Persönliche Angriffe und Beleidigungen. Da fliegen die Schimpfworte hin und her, auch da gehen Freundschaften zu Bruch, entstehen tiefe Verletzungen. Menschen, die nicht mehr miteinander reden und sich aus dem Weg gehen.

Kennen Sie, oder? Auch aus anderen Zusammenhängen. Gemeinde, Familie, Beruf, Verein. Wahrscheinlich haben Sie jetzt schon die eine oder andere Situation im Kopf, wo das ähnlich lief.
„Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit“, so sagt es unser Predigttext. Wenn das mal so leicht wäre.

„Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“

Puh. Vergebt einander. Seid freundlich und herzlich. Kann ich das wirklich? Will ich das auch? Nicht nur oberflächlich, sondern von Herzen?

Und wie könnte das aussehen? Was könnte ich persönlich dazu beitragen? Oder sollten wir uns ganz aus all diesen Fragen zurückziehen, uns nur noch sozusagen um unser Seelenheil kümmern? Wenn ich mir den Anfang des Predigttextes ansehe, scheint das durchaus eine Option zu sein:

„Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“

Wahre Gerechtigkeit und Heiligkeit. Könnte man so lesen, als ginge es um ein Leben in Abgeschiedenheit von allem um uns herum. Viel Beten, viel Ruhe, kein Einmischen in irgendwelche Fragen des täglichen politischen Lebens. Kein Klimawandel, keine Verkehrspolitik, kein Engagement für Flüchtlinge. 

Und das werfen ja auch manche den christlichen Kirchen vor, sie seien zu politisch geworden und sollten sich mehr um das Seelenheil ihrer „Schäfchen“ kümmern.

Aber schon das Wort „Gerechtigkeit“ zeigt: Das ist nicht gemeint. Recht und Gerechtigkeit, das haben schon die Propheten im Alten Testament gefordert. Und immer war es eine hoch politische Forderung: Allen Menschen soll Gerechtigkeit widerfahren. Alle Menschen sollen eine gute Grundlage für ihr Leben haben. Seelenheil und körperliches Wohlergehen gehören zuammen, das können wir nicht voneinander trennen. Und wer nicht dafür sorgt, dass es allen gut geht, der widerspricht Gottes Willen für uns. Nur – den richtigen Weg dahin, den finden wir nicht immer direkt in der Bibel. Über Steigerwaldbahn und Klimawandel findet sich da erst mal nichts.

So. Und nun zu uns. Zu Ihnen. Und zu mir. Wie kann das funktionieren? Wie können wir die Gräben überbrücken, gerade dann, wenn sich zwei Positionen unversöhnlich gegenüberstehen?

Ausgerechnet ein Politiker, Bodo Ramelow von den Linken, hat einmal einen Satz gesagt, der sehr gut dazu passt, finde ich. „Politik ist andauernde Vergebung“. Nun ist Ramelow ja auch bekennender Christ. Ich glaube, wir können das durchaus auch auf unsere Gemeinden und unsere anderen Diskussionen übertragen: Gemeinde – das ist andauernde Vergebung. Selbst dann, wenn’s schwer fällt. Wir können nur immer wieder versuchen zu verzeihen. Aufeinander zuzugehen. So, wie es uns der heutige Predigttext sagt. Das ist nicht immer leicht. Daran werden wir auch immer wieder mal scheitern, werden Gräben aufreißen, statt sie zuzuschütten. Aber es hat ja auch niemand behauptet, dass es leicht ist, Jesus nachzufolgen. Ich finde: Daran sollte man uns Christinnen und Christen erkennen. Dass wir immer wieder neu versuchen, aufeinander zuzugehen. Einander andauernd zu vergeben. Unser Gegenüber zu verstehen, Dinge auch aus seiner oder ihrer Position anzusehen oder es wenigstens zu versuchen. Und dass wir uns gegenseitig die Fehler verzeihen und auch eingestehen, dass wir selbst welche machen.

Daran soll man uns erkennen, dass wir immer wieder versuchen, die richtigen Schritte zu gehen. Aufeinander zu. Weil wir gemeinsam vor Gott stehen, der uns alle liebt. Auch die, die wir gar nicht ausstehen können. Gemeinde – das ist andauernde Vergebung.

Amen.

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